„Empört euch“. Hessels Imperativ wird in der digitalen Welt allzu gern gelebt. Autor Marco Büsch kritisierte im Mag20- Beitrag von letzter Woche diese oberflächliche Empörungseuphorie. Hier ist meine Replik darauf.
Vorweg: Da ich in wesentlichen Punkten mit dem Autor übereinstimme und seinem Text gerne in die engere Selektion für die wöchentliche Print-Ausgabe verhelfen wollte, verbreitete ich den Beitrag wohlwollend über meine Netzwerke.
Worum ging es dabei? Büsch monierte unsere Empörungskultur, die sich weitgehend in Form von paar Klickbekundungen manifestiert. Der Gegenstand der Empörung ist dabei beliebig, so handeln wir politische Sachverhalte im Tagesrythmus durch paar Statusmeldungen und Kommentare ab. Die meisten Protestwellen verpuffen, sobald die Medien die nächste Schlagzeile setzen. Die Systemlogik und Infrastruktur von Facebook verleitet uns da zu vereinfachten Stellungnahmen. Komplizierte Statements gefallen niemandem, reisserische Behauptungen und Thesen werden geliket. Jawohl, endlich sagts jemand! Ich tue auch etwas!
Delegation der Aufmerksamkeit an Andere
Als ich den Text las, drehte ich im Kopf das Rad der Geschichte zurück und dachte über die Alternative nach. Was wäre, wenn das Zeitalter der sozialen Medien gar nie eingetroffen wäre? Vielleicht wäre der Protest fokussierter und konzentrierter, vielleicht sogar lang anhaltender. Er würde sich vielleicht noch eher auf die Strasse verlagern. Die Medien würden mehr denn je ihre Funktion als Gatekeeper wahrnehmen, wie im 20. Jahrhundert. Und vermutlich verstärkt unsere Protestagenda diktieren. Über „Was wäre wenn“-Szenarien bezüglich dem technologischen Wandel zu fabulieren, macht aber wenig Sinn.
Wir wissen, dass der Austausch und Koordination auf sozialen Netzwerken auch effektive Machtverschiebungen ausgelöst hat. Der arabische Frühling ist dafür exemplarisch: Innert Wochen wurden jahrzehntelang herrschende Machthaber und Diktatoren von der eigenen Bevölkerung gestürzt. Die Mobilisierung fand weitgehend durch soziale Netzwerke statt.
Akteure wie beispielsweise die Campaigning-Organisation Avaaz, sammeln innert Stunden Hunderttausende von digitalen Unterschriften, um durch Petitionen gegen Missstände und bevorstehende menschenrechtswidrigen Entscheidungen nationaler Regierungen vorzugehen. So wurde beispielsweise das Todesurteil gegen die Iranerin Sakineh Ashtiani gestoppt, die Folge eines Aufruf ihres Sohnes, der sich via Facebook an die internationale Gemeinschaft wandte. Ein Gesetz, welches eine Todesstrafe für „praktizierte“ Homosexualität in Uganda vorsieht, wurde ausser Gefecht gesetzt.
Natürlich sind dies nur temporäre Erfolgsmomente. Die Warlords und Autokraten können weiterhin schalten und walten, sobald sich die Weböffentlichkeit „nach getaner Arbeit“ ihren profanen Alltagsdingen zuwendet und wieder frivol Ferienfotos auf ihre Profile hinaufladet. Wichtig ist daher, dass diese unabhängigen Organisationen die betroffenen Schicksale im Auge behalten und die Unterstützer-Community aktiviert, sobald nächste Repressionsschritte geplant werden. Wir delegieren in dieser Sache die Aufmerksamkeit an nicht-staatliche Akteure. Und das ist in Ordnung so.
Die Probleme sind länderübergreifend, gelöst werden sie national
Ich sehe die Problematik der gegenwärtigen inflationären Empörungseuphorie woanders. Politische Probleme werden komplexer und länderübergreifend spürbar. Die Feindbilder im Gegensatz zum Kalten Krieg diffuser. Dennoch leben wir in einer souveränen Staatengemeinschaft. Das bedeutet, die Staaten akzeptieren gegenseitige Unabhängigkeit und Autonomie. Sie mischen sich nicht in innere Angelegenheiten eines anderen repressiven Staates ein, auch wenn dieser aufgrund von ratifizierten Verträgen zur Einhaltung von Konventionen verpflichtet wäre. Theoretisch eben.
Trotzdem erreichen uns täglich Bilder alltäglicher Diskriminierung und Ungerechtigkeiten in unseren Wohnzimmern. Die grausamen Aufnahmen von den Gefechten in Syrien, die auf Crowdmaps hinaufgeladen und aggregiert werden. Verwackelte Videos in Fukushima, die uns das dortige Erdbeben und die anrollende Tsunami-Welle spüren lassen. Kriegberichterstattung in Echtzeit, unscharfe Handyuploads und Tweets, die das Geschehen unmittelbar dokumentieren, machen uns sprachlos.
Wir sind informierter denn je…Und dadurch noch hilfloser
Letzten Freitag war die ganze Welt Zeuge eines Schauprozesses, der nach unserer westlichen Auffassung alles andere als nach den Massstäben der Rechtsstaatlichkeit erfolgte. Die verhängte drakonische Strafe ist dabei eine Machtdemonstration des Putin-Regimes und soll symbolische Signalwirkung für die Opposition und aufkeimende Zivilgesellschaft in Russland haben.
Auf Twitter wurde live aus dem Gerichtssaal getwittert, im Internet und durch Online-Medien via News-Ticker berichtet oder gestreamed und auf Facebook zur Gegendemonstrationen aufgerufen. Auf keinem Kanal konnte man sich der Rechtsprechung über die Aktion der 3 Punkrockerinnen entziehen. Dabei bot uns die Justiz, die eine 3stündige Anklageschrift aufgrund eines 40-sekündigen Auftritt verlas, ein für unsere Breitengrade abstruses Spektakel . Diese hautnahe Konfrontation mit der politischen Realität in Russland rüttelte selbst die politisch Desinteressierten unter den Digital Natives aus. Unter dem Kürzel #PussyRiot twitterte jemand die Frage, die uns wohl alle in diesem Moment umtrieb: „Können wir denn von hier aus nichts tun?“
Solche Bilder und Live-Berichte von Naturkatastrophen, Kriegsereignissen und Prozessen erzeugen eine Ohnmacht in uns. Eine Hilflosigkeit. Wie gehen wir mit der Diskrepanz um, einerseits hautnah Krieg und Unrecht zu erleben, so gut informiert zu sein wie die Korrespondenten vor Ort, und andererseits all diese Ereignisse doch nur hinter dem Bildschirm live verfolgen zu können? Unser Aktionsradius ist in jenem Moment begrenzt und kann sich kaum über die Kommentarebene hinausbewegen.
Antworten auf diese Frage zu finden, scheint mir die wichtigste Herausforderung für unsere Empörungsgeneration sein. Den richtigen Umgang mit der Informations – und Bilderflut auszutarieren, ohne dabei „im richtigen Moment“ den Elan für effektives Engagement zu verlieren, echte Empörung zu spüren und nicht in Resignation und Zynismus zu verfallen.
…und da wären wir doch wieder bei Kony 2012. Hat sich eigentlich jemand letzte Woche mal gefragt, was diese Social Media Betroffenheits-Welle gebracht hat? Ich werde dies mal tun.
Schön geschrieben Adrienne…und leider wahr und keine Lösung in Sicht.
Vielen Dank Roman für Deinen Kommentar auf meinem Original-Beitrag! (wie Du ja weisst, befindet sich auf Mag20 nur einen verringerten Auszug davon).
Unbedingt den Ball aufnehmen und die Betroffenheitswelle von letzter Wochen analysieren. Mit etwas zeitlichem Abstand wirst Du bestimmt zu interessanten Erkenntnissen und vielleicht ähnlichen Schlüssen kommen. Oder aber die Pussy Riot-Protestwelle kocht immer noch…Wir werden sehen!
…und du weisst ja, der Bobby Marley sagte schon immer: „Time time will tell“ http://www.youtube.com/watch?v=0uKnkjtaZJU