Bedingungslose Unterstützung für politisches Tabula Rasa

Und wieder nehme ich zu einem Artikel der neuen Publikationsplattform „Mag20“ Stellung. Dieses Mal stammt der originäre Text von Jörg Thalmann, der sich kritisch über die hiesigen Medien und internationalen Protestwelle zum Fall Pussy Riot äusserte.

Es sind diese geisselnden Misstöne wie der vorliegende Text, die mich an der zunehmend kritischen Berichterstattung stören. Mithilfe von kulturrelativistischen Argumenten und Hintergrundberichten wird allmählich fast schon für Verständnis für die russische Justiz geworben. Nun decken Journalisten die Vorgeschichte der 3 PunkrockerInnen auf (beispielsweise ihre Mitgliedschaft im künstlerischen Kollektiv „Woina“), weisen auf deren anarchistische Gesinnung hin, ziehen Parallelen zu den Aktionen der RAF-Mitgliedern etc.

Mit Verlaub: Das ist doch alles völlig irrelevant. Wir müssen das gesprochene Strafmass gesondert betrachten. 2 Jahre Straflager für 40 Sekunden Radau. Ein Augenmerk gilt auch dem Rechtsverfahren, der an den Anforderungen eines Rechtsstaates, als welcher sich Russland immer noch offiziell deklariert,  gemessen werden muss. (Wenn wir dann noch kulturelle Besonderheiten berücksichtigen wollen, dann wäre doch bitte mal eine Reportage über die Haftbedingungen eines russischen Straflagers -im Vergleich zu unseren Gefängnissen im Westen- angebracht).

Der Autor Thalmann moniert in seinem Artikel auch unsere naive westliche Unterstützung für Rebellen und Opposition zum Selbstzweck. Es sei „en vogue“ sich mit Kreisen zu solidarisieren, die gegen eine repressive Obrigkeit aufbegehren.

Müssen wir nun unsere Parteinahme für die Rebellen vor einem Jahr tatsächlich überdenken, weil nun in vielen nordafrikanischen Staaten islamische politische Kräfte das Zepter übernommen und die weitgehend fair abgelaufenen Wahlen gewonnen haben? Nicht dass ich selber diese Entwicklung begrüssen würde.  Aber nur in Antizipation möglicher politischer radikaler Tendenzen nicht am Status Quo, der für Tausende von Menschen tagtägliche Unterdrückung und Armut bedeutete, zu rütteln, ist absolut inakzeptabel. Und einer freien westlichen Gesellschaft nicht würdig. Blinde Solidarisierungsreflexe hin oder her.

Damit Pluralismus gelebt wird, müssen die Rahmenbedingungen zuerst dafür geschaffen werden. Um repressive Kräfte wegzufegen, ist mancherorts Tabula Rasa nötig. In den erstarrten autokratischen Systemen von Nordafrika war dieser Umbruch nur durch das Momentum einer Revolution und durch den Widerstand breiter Bevölkerungskreise möglich. Der Sturz der autoritären Regierungen hinterliess ein Machtvakuum, in welches natürlich nicht nur moderate und liberale Kreise vorgeprescht sind. Doch Demokratie muss zuerst probiert und geübt werden. Sorgen die neuen Machthaber mit ihrem extremistischen Gedankengut für neue Repressalien, so werden sie spätestens in 4 Jahren durch demokratische Parlamentswahlen abgestraft. 

Russland ist von diesem demokratischen Stadium noch weit entfernt, denn Putin führt den Sicherheitsapparat mit eiserner Hand. Es gibt im Gegensatz zu Ägypten und Tunesien kaum Funktionäre, die sich von der Armee abwenden. Protestbewegungen werden im Keim erstickt, viele unrechtmässigen Inhaftierungen schaffen es gar nicht in die westliche Tagespresse. Um sich über die nationalen Grenzen hinaus Gehör zu schaffen, rebellierte die Gruppe Pussy Riot in einer Institution, die eine tragende Säule der russischen Nationalkultur darstellt: In der orthodoxen Kirche.  Die Symbolik der Aktion war nicht zu ignorieren.

Natürlich waren sie sich der Tragweite der provokativen Aktion bewusst, wenn sie auch nicht mit einer solchen Freiheitsstrafe gerechnet haben. Doch- ich wiederhole mich- müssen wir unabhängig von den Motiven den Sachverhalt betrachten: Die 3 Punkrockerinnen haben religiöse Gefühle verletzt (aber nicht aus religiösem Hass agiert), sie haben BesucherInnen erschreckt und Lärm verursacht.  Alle Beteiligten blieben unversehrt, nach 40 Sekunden war der kurze Spuk vorbei, so dass er den meisten betroffenen Zuschauern fast schon surreal vorkommen muss. Den durch das Trauma entstandene Schaden liesse sich somit mit einer saftigen Geldbusse genügend abgelten.

Ob sich nun eine Minderheit für die jungen Frauen in Russland einsetzt oder ob sie vorbehaltlosen Rückhalt aus dem Westen geniessen: Die konkret vorliegenden Tatbestände und der niedrige Unterstützungsgrad durch die russische Gesellschaft (einem ohnehin eher demonstrationsträgen Volk) rechtfertigen auf keine Weise ein solches Strafmass.

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