Soziale Medien werden immer mehr in Live-Events einbezogen. Vor allem bei Musik-Events avancieren twitternde Stars zu den Meinungsmachern vor Ort. SocialTV-Formate würden sich vor allem für eine weitere Sorte von TV-Events eignen: Für politische Live-Debatten. Das Beispiel der letzten „Arena“-Sendung zeigt, wie versäumte Publikumshinweise zur physischen Sessions-Präsenz von Politikern die Glaubwürdigkeit gewisser geladenen Gäste in Frage gestellt hätte…
Einige politisch interessierte Bekannte, die ich kenne, haben der berühmtesten Politsendung des SF abgeschworen. Grund: Zu viel Hektik während der Diskussion, vermeintliche Bevorzugung von Rednern bestimmter politischer Couleur, nervende persönliche Attacken, wenig Substanz. Ergebnis: Für irgendeinen Teil der Zuschauer ist der Sendungsverlauf immer unbefriedigend, das Frustrationspotenzial hoch. Leider sind bei den Sendungsmachern keine kommunikativen Anknüpfungspunkte vorgesehen, um sich diesen Gefühlen Luft zu machen oder um mit eigenen Meinungen konstruktiv zur Weiterentwicklung der Sendung beizutragen.
Twitter bleibt oft nur „Meta-Ebene“ der Diskussion
Dabei ist die sogenannte „Medienkonvergenz“ zurzeit in aller Munde. Noch wird diese folgendermassen verstanden: Neue Kommunikationsplattformen werden als nettes Anhängsel formell an die Websites traditioneller Medien angehängt. Selten werden die Sphären soziale Medien und TV inhaltlich miteinander verquickt. Soziale Medien werden zwar zur neuen Medienrealität erklärt, neue Geschäftsmodelle derzeit von Medienverlagen ausgetüftelt. Seltsamerweise findet die inhaltliche Programmgestaltung nach wie vor weitgehend ohne Einbindung der sozialen Medien statt. Im Studio wird produziert, online und über Kabel gesendet. Das Ereignis wird im TV übertragen, die Metaebene-Diskussion dazu läuft auf Twitter.
Findet ein bestimmtes politisches Ereignis statt, so existieren nach wie zwei parallel getrennte Veranstaltungsöffentlichkeiten. Spannend wäre somit der Versuch einer moderierten Integration der Publikumsreaktionen, was den Verlauf einer Sendung natürlich massgeblich beeinflussen würde. Dass politische TV-Duelle und Debatten trotz aller Publikumsumfragen immer noch abgeschottet von der potenziellen Wählerschaft abgehalten werden, erstaunt in unserem Mitmach-Webzeitalter.
Was Twitterer aufgedeckt hätten: Überzeugte Milizpolitiker glänzen mit Abwesenheit in den Sessionen
Der Mehrwert einer Social Media-Integration liegt auf der Hand. Die politischen Gäste würden die Zustimmung und Wirkung ihrer Argumente hautnah spüren. Die Sendungsmacher wiederum würden ungemein vom „wisdowm of the crowd“ profitieren. Um wieder auf das Beispiel der „Arena“ zurückzukommen: Inspiriert von Claude Longchamps Zusammenfassung (der mich auch zu diesem Blogartikel anregte) über die letzte Arena-Ausstrahlung, schaute ich mir auf dem Videoportal die letzte Sendung an.
Filippo Leutenegger hat darin als Hauptgast in der 1. Reihe das Milizparlament als wichtige Institution unseres politischen Systems vehement verteidigt. Zufällig bin ich als ehemalige Community Managerin von politnetz.ch und Initiantin der Sessionsvisualisierungen gut über einen potenziellen Nachteil unseres aktuellen Parlamentsbetriebs informiert: Nämlich über die Abwesenheiten unserer Bundesparlamentarier in der Session.
Pünktlich zum Sessionsende publiziert politnetz.ch jeweils die von vielen PolitikerInnen verachtete und von den Medien geliebte Schwänzerrubrik. In der aktuellen Liste zur Herbstsession führt ein politisches Schwergewicht der FDP das Ranking der unentschuldigten Absenzen an. Es ist dies- so die Ironie der ganzen Geschichte- Filippo Leutenegger (worauf er auch angesprochen wurde). Und eine Reihe weiterer bürgerliche Politiker, die an unserer vermeintlichen tragenden Säule unserer politischen Kultur festhalten möchten und regelmässig gegen ein Berufsparlament abstimmen.

Ein potenzieller Zuschauerinput: Die berüchtigte „Schwänzerrubrik“ von politnetz.ch (aktuell die Herbstsession).
Diejenigen Politiker, die also die Bodenhaftung der Milizpolitiker hochhalten und die Vereinbarkeit von Politiker und Beruf proklamieren, sind in den entscheidenden Momenten also oftmals gar nicht am politischen Drücker. Über die Gründe ihres Fernbleibens lässt sich spekulieren. Ihre beruflichen Verpflichtungen dürften eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielen.
Angenommen, ich hätte die besagte Sendung zur Sendezeit geschaut und mich via Social Media mit meiner Quelle einbringen können: Zu wessen Gunsten sich der verbale Schlagabtausch verändert hätte, wenn diese nicht ganz unwesentliche Information der bürgerlichen Dominanz unter den Schwänzern (in Korrelation mit ihrem Abstimmungsverhalten zur Einführung eines Berufsparlaments) in die Diskussion eingeblendet worden wäre, kann man sich unschwer vorstellen.
Publikumseinbezug muss nicht zwingend Shitstorm-Flut bedeuten
Ein echtes Social-TV würde natürlich durch die Beteiligung des Publikums eine Herausforderung für die Produzenten und Moderatoren bedeuten. Neben den neuen Produktionsanforderungen (die Arena ist eine Live-Aufzeichnung, die zu späterer Stunde ausgestrahlt wird) wäre die Inszenierung der Debatte schwieriger zu planen. Dramaturgische Momente damit unberechenbarer.
Um eine wütende Kommentarwelle oder Troll-Unruhen zu unterbinden, müssten potenzielle Fragen auf Twitter oder einer bestimmten App dem Publikum gestellt werden. So könnte der (garantiert) hereinbrechende Nachrichtenstrom besser kanalisiert werden.
3 Vorschläge, wie soziale Medien produktiv in eine politische Live-Debatte einbezogen werden könnte:
- Nicht die Zustimmung zu einem Standpunkt müsste massgebend für eine Bewertung der Protagonisten sein, denn dann hätte der „politische Bias“ der Zuschauerschaft zu grosses Gewicht. Sondern: Wer legt seine Argumente am Klarsten dar? Wer weicht aus und strotzt mit Floskeln? Das zwingt die Zuschauer ihre politische Brille abzulegen und den vorgetragenen Standpunkten zu folgen. Die Gäste wiederum müssten sich klarer positionieren und schärfer argumentieren. Im US-Präsidentschaftswahlkampf kamen bereits entsprechende Apps zur Anwendung. Resultat: Romney wurde nach Meinung von 75% der Zuschauer mit dem Vorwurf konfrontiert, auf entscheidende Fragen keine konkreten Antworten zu geben.
- Die Redezeit ist ein sehr umstrittenes Thema in vielen Debatten und auch in den „Arena“-Nachbereitungen immer wieder ein Politikum. Eine Abstimmung während der Sendung, wer noch zu Wort kommen sollte, wäre ebenfalls eine Idee.
- Last but not least müssen gehaltvolle Fragen und Anregungen oder eben wertvolle Inputs Eingang in die Sendung haben. Eine vorgängige Selektion durch einen TV-Assistenten wäre hierbei ebenfalls unabdingbar.
Meine Vision: Ein partizipativer „Service Public“
Alle diese Partizipationsvorschläge wären vermutlich mit dem gegenwärtigen Format gar nicht realisierbar. Denn die oftmals hyperventilierend anmutende „Arena“ hat sich mit der zunehmenden Gästezahl in vielen Belangen übernommen. Viele Politiker in der zweiten Runde rattern ihre bereits im Vorfeld verfassten Stellungnahmen runter, bevor sie auf die vorangegangenen Aussagen Bezug nehmen.
Ich wünsche mir einen „Service Public“ der zukunftsorientiert und auch inhaltlich-partizipativ konvergent ist. Eine Entscheidungsarena zur politischen Meinungsbildung, in der soziale Medien nicht einfach Beigemüse-Quellen für die nachgelagerte TV-Kritik darstellen, deren sich Journalisten punktuell bedienen. Sondern die Publikumsreaktionen auf konstruktive Weise in Echtzeit einbezieht. Das wäre für mich ein „Service Public“ den ich gerne und aus voller Überzeugung mit meinem Gebührenbeitrag mitberappen möchte.
Liebe Adrienne, mir gefällt der Ansatz, partizipativer TV-Sendungen. Gerade politische Diskussionen wären sehr gut dazu geeignet, ABER es wird wohl sehr schwer sein, hier einen Bias rauszunehmen. Denn wie immer in einem Wettbewerb, würde wohl jeder Diskussionsteilnehmer seine Fanbase aktivieren und so wo möglich die Gegenparteien mit Fragen/Kritiken überschütten. Was dazu führen würde, dass der von Dir genannte TV-Assistent dann die Auswahl treffen muss, was für die Diskussion konstruktiv sein kann, wo nachgehakt werden soll. Und schon ist die „Demokratie“ wieder weg, bzw. könnte die Diskussion auf die eine oder andere Seite geleitet werden. Und die Schuld von möglichen Unterlegenen würde dann, sofort dem TV-Sender zugeschoben.
Nach Einstellung des Mag20 kam im Blog von Philippe Wampfler http://philippe-wampfler.com/2012/09/30/zum-ende-von-mag20/ eine ähnliche Diskussion auf, weil Artikel mit „nur“ 100 Empfehlungen es in die ersten Ausgaben des Magazins gebracht haben. So war es natürlich für aktive Socialnauten möglich, eigene Artikel mittels deren Follower fast problemlos ins Heft zu bringen. Um eine repräsentative Meinung zu erhalten, müsste der Zugang zur Interaktion breiter möglich sein, als dies heute bei Twitter der Fall ist. Die Interaktion müsste m.E. direkt über das TV-Gerät erfolgen und sollte natürlich so oft und so motivierend wie möglich eingesetzt werden. So würde z.B. auch mein Vater, der kein Social Media Nutzer ist, aber sehr politisch interessiert, auf eine Sendung Einfluss nehmen. So wäre die Crowd meiner Meinung nach gross genug, um die richtigen Fragen im ganzen Spektrum zu stellen.
Danke Roman für Deine Überlegungen. Absolut, eine Verschmelzung von Fernbedienung und Interaktionsfunktionalität wäre natürlich die Crème de la Crème. Dahin wird sich das SocialTV nach Meinung von Trend- und Zukunftsforschern ohnehin bewegen (ich habe neulich eine entsprechende Veranstaltung besucht). Smartphones und Tablet werden also früher oder später auch unser TV steuern oder TV-Geräte mit ähnlichen Funktionalitäten ausgestattet werden.
Zum anderen Punkt. Auch da hast Du natürlich Recht, die Mobilisierung der Fanbase könnte sich sehr parteiisch für einen Kandidaten auswirken. Doch besteht diese Gefahr bereits in der „offline“-Partizipation, bzw. in den nachgelagerten Publikumsbefragungen. Die politischen Gesinnungen lassen sich nicht einfach wegswitchen, auch bei Bemühungen die Fragen so neutral wie möglich zu beantworten.. Romney scheint beim TV-Duell sowohl seine Anhänger begeistert, als auch die Wechselwähler überzeugt zu haben. Ich gehe stark davon aus, dass auch unentschlossene Wähler sich bei einer Live-Beteiligung zu Wort gemeldet und kritische Fragen gestellt hätten. Gerade WEIL sie bis dato eben noch nicht gewusst haben, welches der beiden Kandidaten sie mehr überzeugt.
Und was die die politische Vereinnahmung des TV-Assistenten angeht. Mit dieser Herausforderung sind die Sendungsmacher und Moderatoren jetzt schon konfrontiert: Wer wird eingeladen, bei wem muss man nachhaken, wer redet wie viel, bei welcher politischen Meinung waren wir zu unkritisch? etc.
Kurz: Alle Einwände einer allfälligen politischen Bevorteilung gelten für die jetzigen Verhältnisse bei einem TV-Event. Ich glaube dass die Sendungmacher bereits mit der jetzigen Erfahrung für eine politische ausgewogene Debatte, auch in der Lage wären, die Online-Zuschriften angemessen zu kuratieren und selektionieren. On- und offline bilden schlussendlich nur die politische Meinung des Publikums ab. Einzig die Kommunikationskanäle sind unterschiedlich.
Ich finde diesen Beitrag sehr unkompetent. Erstens wurde Leutenegger durchaus entlarvt in dieser Sendung, und zweitens ist Fernsehen=Fernsehen (und nicht gleich Twitter). Man kann nicht alle Medien miteinander verbinden, und insbesondere die klassischen Medien müssen und sollen das nicht tun. Dafür gibt es das Internet. 😉
Hoi Marco (sorry für die späte Antwort, Dein Kommentar ging irgendwie unter). Wenn Du Kompetenz mit Deiner Meinung, ob Medien (Internet und Fernsehen) miteinander fruchtbar verzahnt werden soll oder nicht, gleichsetzt, dann scheint mir Deine Bemerkung wohl um einiges unqualifizierter zu sein. Leutenegger wurde entlarvt, aber viele andere (in der Arena( anwesende bürgerliche Politiker (die genauso oft fehlten) und sich für unser Milizsystem aussprachen, ebenso. Es wäre gut gewesen, wenn die Moderatoren nicht von „einer Statistik“ sprechen würden, sondern die Top 20-Schwänzer gleich einblenden würden. Und diese Kompetenz und das Wissen schien auf Seite der Zuschauerschaft vorhanden zu sein, die an diesem Abend mittwitterten. Fragen?
„Pünktlich zum Sessionsende publiziert politnetz.ch jeweils die von vielen PolitikerInnen verachtete und von den Medien geliebte Schwänzerrubrik. In der aktuellen Liste zur Herbstsession führt ein politisches Schwergewicht der FDP das Ranking der unentschuldigten Absenzen an. Es ist dies- so die Ironie der ganzen Geschichte- Filippo Leutenegger (worauf er auch angesprochen wurde). Und eine Reihe weiterer bürgerliche Politiker, die an unserer vermeintlichen tragenden Säule unserer politischen Kultur festhalten möchten und regelmässig gegen ein Berufsparlament abstimmen“
Übrigens: Wenn Du Internet nicht für ein TV-Medium hältst, dann wird Dich spätestens die Billag eines Besseren belehren. Schliesslich zahlst Du für alle tv-empfangsfähigen Geräte…
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