Der #aufschrei zeigt auch: „Blaming the victim“ ist salonfähig

Es wurde viel geschrieben und „getalkt“  (mindestens 5 Late-Night-Talkshows im Deutschen Fernsehen) über die #aufschrei-Debatte die letzten Tage. Nachdem ich nun die Replik der Publizistin Birgit Kelle gelesen und ihren Auftritt bei „Markus Lanz“ gesehen habe, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, selber zu diesem Thema in die Tasten zu greifen.

Denn in ihrem Appell „Dann mach doch die Bluse zu“ manifestiert sich meiner Meinung nach gleichzeitig die Problematik der Debatte: Die Präventionspflicht, die immer noch bei den potenziellen Opfern liegt.

 Ja, die Journaille hat die Macht, ganze Karrieren abrupt zu beenden und zu ruinieren. So geschehen bei Ex-Bundespräsident Wulff und auch einem SVP-Lokalpolitiker (Kristallnachttweet).

Weswegen Brüderle und die deutsche FDP sich dennoch bis heute nicht um eine Klärung bemühen, finde ich dennoch nicht nachvollziehbar. Zumal es sich bei diesen Zitaten, sollte er sie wirklich so gesagt haben, um doch sehr gravierende Aussagen (die ich als Verfehlung einstufe, dies erörtere ich aber weiter unten) handelt.

Die antiquierte Politpersönlichkeit Brüderle

Die deutschen Medien haben aus dem STERN-Erlebnisbericht von Frau Himmelreich (der Journalistin) einen klaren Belästigungsvorwurf abgeleitet. Sie selber bestritt dies mittlerweile, ihr ging es um eine andere Aussage. Nachdem ich den ganzen Artikel gelesen habe, wusste ich wovon sie sprach: Sie wollte aufzeigen, dass es sich bei Brüderle um eine eher antiquierte Politpersönlichkeit aus dem letzten Jahrhundert handelt. Sozialisiert in einer Zeit, in der es noch „Tanzkarten“ gab. Seine schlüpfrigen Bemerkungen (oder eben der Herrenwitz) stehen nur exemplarisch für seine Weltanschauung. Und ausgerechnet so jemand soll die FDP wieder auf Kurs bringen und modernisieren? Darauf schien sie abzuzielen.

Unabhängig des sexistischen Gehalts seiner Aussagen, sehe ich in den verbalen Verfehlungen eine andere Problematik: Das Ausnutzen eines Machtverhältnisses und die Überschreitung von persönlichen Grenzen. Es geht darum, dass eine junge Frau ein Interview in einem professionellen Rahmen abhalten wollte (als Interviewerin ist sie auf seine Antworten angewiesen) und er diese Rahmenbedingungen wiederholt verletzt hatte. Was er im Wortlaut genau gesagt hat, ist eigentlich sekundär.

Kann sich Frau Himmelreich wirklich mächtig fühlen?

Sie schien ihm aber zu verstehen zu geben, dass sie auf den professionellen Rahmen bestehen will. Das vermeintliche „Machtverhältnis“ kippte also nach Auffassung von Frau Kelle im Moment der Veröffentlichung dieses Artikels. Und genau dann schreit das halbe Mediendeutschland auf. Die FDP echauffiert sich über den Zeitpunkt der Publikation, da dieser ihrem aussichtsreichsten Kandidaten das politische Genick brechen könnte. Frauen und Männer mokkieren sich öffentlich über das kaltblütige Kalkül dieser Journalistin.

Doch glaubt Frau Kelle wirklich, die Journalistin könnte sich nun eines „Machtmomentums“ zu diesem Zeitpunkt wähnen? Glaubt sie, sich so zu entblössen, müsse Spass machen und Genugtuung schaffen? Der Grad der Exponiertheit, zuzugeben, man wurde angegriffen, belästigt, verunglimpft ist genauso ein schwieriger Schritt. Man erstattet auch nicht bei jeder gesetzlichen Übertretung gleich Anzeige. Diese Perspektive geht bei der „Blaming the Victim“-Rhetorik mancher leider unter….

Umkehr der „Beweislast“

Dann mach doch die Bluse zu! Genau die Entgegnung von Frau Kelle auf diese kompromittierende Situation und wie ich sie diese Woche oft auf Twitter und in unsäglichen Talkshows im „Verteidigungschor“ (den es mittlerweile auch so gibt) gelesen und gehört habe, enthüllt die Kernproblematik der Debatte.

Solange Frauen aufgefordert werden, „die Bluse zuzumachen“ sich zu wehren, in derselben Schärfe zurückzuschiessen, solange diese Forderung dem Tenor der Öffentlichkeit entspricht, solange ist der alltägliche Sexismus noch salonfähig in dieser Gesellschaft. Und solange die Ohnmacht von Frauen und Männern nicht verstanden wird, die eben keine Energie und Musse in diese ständige Abwehrstrategien investieren wollen, solange muss und soll die Empörung andauern.

Mit dem Appell von Frau Kelle wird in unseren Köpfen das etablierte Täter-Opfer-Schema zementiert. Und die Prämisse verfestigt: Der (unbelehrbare) Aggressor  existiert nun mal, die „Beweislast“ einer Überschreitung und die Präventionspflicht liegt beim Opfer. Bzw. bei der angepöbelten belästigten Person.

Im Falle Brüderle liegt die Notwendigkeit der Gegendarstellung oder Klärung bei ihm. In diesem Fall läuft es also einmal anders…

Es geht gar nicht nur um Sexismus

Es geht  in der aufgeflammten Debatte gar nicht mehr um Brüderle. Es geht um die alltäglichen Erduldungen und beklemmenden Situationen.
Es geht um die Verletzung klar signalisierter persönlicher Grenzen, wie sie Frauen (und auch Männer) tausendfach erlebt und verdrängt haben.

Die dadurch ausgelöste Debatte über den alltäglichen Sexismus in unseren Breitengraden (die ich übrigens als gut, gesund und notwendig erachte) hat diese inhaltliche Stossrichtung zum Glück bereits eingeschlagen. (In Italien würde man vielleicht dem arrivierten Polithasen akklamieren und das Opfer in einer breit angelegten medialen Schlacht wohl noch mehr verhöhnen. Doch dies nur als Randbemerkung).

Alle diese eigenermächtigten männlichen und auch weiblichen Brüderle-Advokaten, die glauben, die allgemeingültige Definitionshoheit des Sexismus inne zu haben, scheinen dies nicht begriffen zu haben. Denn was Sexismus im Kleinen und im Grossen bedeutet, bedarf einer längeren Auseinandersetzung und Verhandlung des Begriffes. Pauschalisierungen und absolute Wahrheiten („DAS ist kein Sexismus, sondern nur plumpe Anmache!“) sind hierbei verfehlt.

Die Sichtbarmachung subtiler Grenzüberschreitungen im #aufschrei-Diskurs erachte ich als die grösste Errungenschaft der Debatte. Weshalb die STERN-Redaktion trotz der unangenehmen Erfahrung der Journalistin, diese immer wieder zu Terminen mit Brüderle schickte, ist mir ebenfalls ein Rätsel. Scheinbar pochte sie auf weitere Begegnungen für die Verifikation oder Falsifikation ihrer Thesen. Um die letzten Puzzle-Teile zur Vervollständigung des persönlichen Brüderle-Portraits beieinander zu haben. Dass dabei möglicherweise einige Puzzle-Teile weggelassen oder -gefiltert worden sind, ist eine legitime journalistische Entscheidung.

Die Debatte dreht sich nicht mehr um Brüderle und um Vergeltungsmomente, wie sie Frau Kelle in ihrem Essay emporstilisierte. Sie dreht sich um alltägliche Grenzüberschreitungen im Kontext der bestehenden Geschlechterverhältnisse. Und nur dieser Aspekt sollte problematisiert werden.

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