Weshalb das gestrige Volksverdikt kein Ausdruck einer Neidgesellschaft ist, die „Abzocker“-Initiative keine Banken-Boni deckeln wird und die Diskussion über das Ständemehr längst überfällig ist.
Die „Abzocker“- Initiative: Weder linkes noch rechtes Anliegen
Eigentlich ein symphatisches Anliegen, dem man auf den ersten Blick viel abgewinnen kann und welches sich nicht so einfach im zweidimensionalen politischen Koordinatensystem verorten lässt: Unsere ohnehin sehr ausgeprägte Demokratie wird ausgedehnt auf die unternehmensinterne Welt. Ein ur-genossenschaftlicher Kerngedanke, wenn es sich bei der „Abzocker-Initiative“ nicht “nur” um börsenkotierte Konzerne handeln würde. Was dem Ansinnen wiederum einen liberalen Beigeschmack beifügt: Denn mit der Initiative werden die Mitbestimmungsrechte von Kapitalanteilseignern und Unternehmenseigentümern gestärkt. Und nicht diejenigen weiterer Anspruchsgruppen (wie dem übrigen „Bodenpersonal“, was die 1:12-Initiative der Juso fordert).
Entgegen den irrigen Interpretationen der internationalen Presse, wurde am Sonntag vom Schweizer Stimmvolk jedoch nicht eine Deckelung der Managergehälter von Banken (wie dies jüngst die EU beschlossen hat) beschlossen. Sondern über eine prozedurale Beteiligungsfrage im Aktienrecht befunden: Die Vergütungsmodelle müssen der Aktionärsversammlung jährlich vorgelegt werden.
„Millionen fürs Nichtstun“ leuchten auch dem liberalsten Herz nicht ein
Darüber hinaus- und das war wohl der massgebende Knackpunkt, der die Basis vieler bürgerlicher Kantonalparteien überzeugte und für die Vorlage mobilisierte- sollen die irrationalen und surreal anmutenden Auswüchse heutigen Geschäftsgebarens beseitigt werden: So werden künftig Halteprämien bei Fusionen oder ausbezahlte Antritt/Abgangsentschädigungen für Kaderpersonen verboten. Damit verankern wir eine gutschweizerische liberale Tugend- das „Lohn gegen Leistung“-Prinzip- verbindlich im Aktienrecht. Künftige goldige Maulkörbe fürs “Nichtstun” wie die 72-Millionen-Konkurrenzentschädigung für Vasella werden dadurch unmöglich.

Wird die“Abzocker“-Initiative die Rekrutierung internationaler Top-Shots effektiv erschweren? (Quelle Pixabay.com)
Die Drohgebärden über den potenziellen Verlust von unternehmerischen Standortvorteilen, die von den Gegnern (wie fast bei jeder wirtschaftspolitischen Abstimmung traditionsgemäss) aktiviert worden sind, waren dieses Mal kontraproduktiv. Sie wirkten meiner Meinung sogar fast schon ächerlich.
Konsequenzen für den Arbeitsmarkt von Kaderpersonen, nicht für Grosskonzerne
Denn die “Abzocker”-Initiative schwächt nicht die Unternehmen (im Gegenteil, wie unten ausgeführt). Sie zielt in erster Linie auf die künftige Rekrutierung von Kaderpersonen auf dem Arbeitsmarkt. Im schlimmsten Fall verlieren wir ein paar internationale Top-Shots, die anderswo ein finanziell besseres Angebot erhalten. Doch bleibt eine Anstellung in den Schweizer Chefetagen sicherlich genügend attraktiv. Und die kantonalen Steuerregime werden wohl etliche Grosskonzerne zum weiteren Verbleib in der Schweiz bewegen.
Trotz einem inhaltlichen Mangel der Initiative (wie beispielweise der “Filzklausel”) hat mich die konsequente Referenz des Unternehmensperspektive (und nicht einzelner Manager und Verwaltungsräte), nach der künftig sämtliche betrieblichen Entscheidungen ausgerichtet werden soll, zu einem überzeugten „Ja“ bewogen: Mit dem langfristigen Überleben und Gedeihens eines Unternehmen im Blick. Und ohne den kurzfristigen Profit einzelner Manager vor Augen.
Das Relikt Ständemehr, der den Familienartikel zu Fall brachte
Ein paar ländlich geprägte Kantone aus der Inner- und Ostschweiz überstimmen eine 55%-Bevölkerungsmehrheit, wie bei der Abstimmung zum „Familienartikel“. Dies aufgrund unserer föderalistisch-demokratischen Spielregeln, die die Schweiz einst auch um den EWR-Beitritt brachte.
Die Abschaffung oder zumindest die Neu-Definition des Ständemehrs ist meiner Meinung nach eine längst überfällige Diskussion, die in den Politologievorlesungen immer wieder neu aufgerollt wird. Im 19. Jahrhundert wurde diese als Puffer bzw. als Instrument der ländlichen katholischen Kantone in der Verfassung installiert, um diese nach dem mehrtägigen Sonderbundskrieg zu befrieden. Ein Grossteil der Bevölkerung lebte damals auf dem Land.
Heute müsste man einen „Stand“ gemäss den demographischen Verschiebungen (und nicht mehr entlang Konfessionslinien) definieren und die Balance zwischen Stadt und Land neu austarieren. Diese staatspolitischen Reformen sind nötig und trotzdem werden sie vorerst daran scheitern, was sie reformieren und modifizieren möchten: Am Ständemehr.
Signal an die Familienpolitiker: Externe Kinderbetreuung ist subsidiär zu handhaben
Aus dem gestrigen Verdikt würde ich als Familienpolitiker(-in) folgenden Handlungsbedarf ableiten: Die Kantonalpolitiker müssen die Abstimmungsergebnisse analysieren, ob sich das Stimmergebnis des jeweiligen kantonalen Elektorats als Votum für mehr (oder weniger) externe Betreuungsangebote deuten lässt und entsprechend handeln.
An einer umfassenden einheitlichen Vorgabe (wie dies der Familienartikel verlangte) ist das Anliegen aufgrund unseres Föderalismus gescheitert. Deswegen muss die Frage der Vereinbarkeit Beruf/Familie weiterhin subsidiär bzw. kantonal und der entsprechenden „Familienkultur“ ausgehandelt werden.
Liebe Adrienne, ich hoffe, dass auf grund der Resultate der Abstimmungen vor allem die Schweizer Unternehmen etwas gelernt haben. Sei es, was die Top-Management-Vergütungen angeht oder die „Lebensqualität“ der Familien. Soziales Verständnis könnte zukünftig ein guter Grund sein, sich für ein Unternehmen als Arbeitnehmer zu entscheiden. Dabei dürfte es zukünftig immer wichtiger werden, wie sich ein Unternehmen in der Gesellschaft engagiert und sich verhält. Man verlangt integere Mitarbeitende, aber diese werden auch faire Arbeitgeber fordern.
Nachhaltigkeit steht wohl in jedem guten Unternehmensporträt, doch fehlt heute vielfach noch der Beweis, dass dies mehr ist, als ein Papiertiger. Die Konsumenten/Arbeitnehmer/Gesellschaft erwartet mehr, als ein Bekenntnis, sie wollen Taten.