Lag es an dem bevorstehenden Euro-Auftakt, anderen vermeintlich wichtigeren Abstimmungen (wie zum Beispiel der „Kiffer“-Busse) in der Session oder den tragischen Tod des berühmten Nationalrats Otto Ineichen, der diese gesamte Sessionswoche überschattete? Anders kann ich mir nämlich kaum erklären, weshalb diese wichtige Entscheidung des Ständerats spurlos an der öffentlichen Wahrnehmung vorbeiging: Ich spreche vom „Nein“ der kleinen Kammer zu einer Einführung einer Verfassungsgerichtbarkeit.
Ich dache zuerst, ich hätte nicht richtig gelesen. Auch die twitternden Politiker schwiegen sich zu dem Thema seltsamerweise aus. Bis auf Barbara Schmid-Federer, die sich mit mir zusammen genauso darüber empörte.
Wir erinnern uns: Am 6. Dezember fiel der Nationalrat (das in jener Session zum ersten Mal in der neuen Zusammensetzung tagte) den historischen und längst überfällen Entscheid, dass das Bundesgericht keine verfassungswidrige Bundesgesetze mehr im konkreten Fall anwenden muss. Dieser staatspolitischen Zäsur haben die neuen Mittekräfte (GLP und BDP-Fraktion) massgeblich zum Durchbruch verholfen (siehe Politnetz-Visualisierung unten). Das prompte Ja hat mich damals selber überrascht. Hatte ich doch unsere Volkskammer eher eine populistische Neigung in dieser wichtigen Frage zugetraut, trotz der unsäglichen Vorgeschichte wie dem Minarettdebakel und der Diskussion, wie die angenommene Ausschaffungsinitiative bei Einhaltung aller internationalen Konventionen und Verpflichtungen wortgetreu umgesetzt werden kann.
Hier der direkte Link auf die Abstimmung im Nationalrat auf politnetz.ch
Nun hat der Ständerat mit einer Mehrheit von 27 gegen 17 Stimmen diesen Vorstoss wieder rückgängig gemacht. Dabei schienen in der Debatte laut NZZ Wortmeldungen gefallen zu sein, wie zum Beispiel man wolle keinen „Richterstaat“ einrichten, die „Gewaltentrennung “ sei genügend austariert. Ich wähnte mich im falschen Film, als ich diesen Artikel las. Da im Ständerat nach wie vor kein elektronischen Abstimmungssystem existiert, mit welcher die sogenannte „Dunkelkammer“ ausgeleuchtet werden kann, kann man nur vermuten, welche „liberalen“ CVP und FDP-PolitikerInnen sich gegen eine Stärkung des Rechtsstaats entschieden haben (einen interessanten Beitrag zur aufgeflammten Transparenz-Debatte über das Stimmverhalten des Ständerats gibt es übrigens auf dem Blog von SoMePolis zu lesen: http://somepolis.ch/2012/06/offentliche-abstimmungsergebnisse-im-standerat/)
Der Ständerat, dem Chambre de Réflexion, in welchem Staatsräson und Besonnenheit hochgeschrieben und Parteipolitik hinten angestellt wird, hätte ich in dieser bedeutenden Frage mehr Mut zugetraut. Zumal es sich bei diesem Vorstoss gar nicht um eine wirkliche Verfassungsgerichtsbarkeit gehandelt hätte: Mit dem Vorstoss würde kein Richterobrigkeit geschaffen werden, die politisch über demokratisch gefällte Entscheidungen richten und diese korrigieren würde. Sondern der Vorstoss wäre lediglich ein präventiver Filter, der die Bundesparlamentarier und Parteien dazu anhalten würde, nicht gegen die Verfassung zu politisieren und keine völkerrechtswidrige Initiative zu lancieren. Die Entscheidungen des Souveräns hätten nach wie vor Vorrang, das Bundegericht hätte ja nur im Streitfall (also bei Klage vor Gericht) etwas zu melden…
Natürlich ist damit angesichts der Modi und der bekannten Langsamkeit des Schweizerischen Gesetzgebungsprozess noch nichts definitiv entschieden. Die Vorlage wird wieder zurückgewiesen an den Nationalrat. Dieser- so hoffe ich- soll bei einem zweiten Anlauf an dieser „Verfassungsgerichtsbarkeit light“-Version bitte festhalten.
Update: Just am selben wie Tag wie der Veröffentlichung dieses Blogartikels hat der Ständerat – es grenzt fast an Ironie- eine kleine Sensation beschlossen und scheint sich zumindest in einer Sache demokratiepolitisch vorwärts bewegen zu wollen. Mit 22 gegen 21 Stimmen beschloss die kleine Kammer die elektronische Stimmabgabe (Initiative des Glarner Ständerats This Jenny) und damit seinen Ruf als ominöse Dunkelkammer abzustreifen. Bald erhalten wir mehr also endlich mehr Transparenz darüber, was mit unserer politischen Stimme im „Stöckli“ genau passiert.
Den Artikel in der aktuellen WOZ gelesen, warum Paul Rechsteiner ebenfalls Nein gestimmt hat? Das könnte dir ev. noch einen anderen Blickwinkel aufzeigen.
Ich bestreite nicht, dass auch linke Ständeräte und Gewerkschafter wie Paul Rechsteiner dagegen sind oder sein könnten. Ich kann mich an den besagten Artikel auch gut erinnern.
In unserer Verfassung sind keine besonderen sozialen Rechte einklagbar (ausser Not-und Sozialhilfe). Die Schweiz hat auch die Europäische Sozialcharta nie ratifiziert. Deswegen hat der St.Galler Ständerat auch kein Interesse daran,
die Verfassung über die Bundeserlasse zu stellen. Seiner Erfahrung nach haben gewerkschaftliche Forderungen allgemein einen schweren Stand vor Bundesgericht.
Die in der Verfassung geregelten „Minimalstandards“ reichen meiner Meinung nach vollends. Das Bundesgericht soll sich auf verbriefte Grundrechte und Freiheiten berufen können.